Denk ich an Leipzig, sehe ich schwarz … Mein WGT 2014: „Ich kreier’ mein eig’nes Universum“21/5/2016 Nach Leipzig zu kommen, ist wie nach Hause zu kommen – jedenfalls trifft dies für das Pfingstwochenende zu, an dem sich die Stadt in einen fabelhaften Maskenball verwandelt, bei dem alle ihr wahrstes Gesicht zeigen. Zwei Konzerte hat Oberer Totpunkt bei diesem wohl heißesten WGT seit langem gegeben: auf dem Hof der Absintherie Sixtina und auf der Parkbühne. Ein persönlicher Rückblick. Hamburg, 8.30 Uhr, es ist Pfingstfreitag und der schwarze Nagellack ist noch nicht vollständig getrocknet. Darum kann ich jetzt unmöglich tragen helfen, erkläre ich meinen Mitmusikern, die etwas sparsam gucken. Ich helfe dann also doch mit. Eine ganze Weile sieht es aus, als würde unser Gepäck, das vor allem aus Schlagzeug-Koffern besteht, auf gar keinen Fall in den VW-Bus und den Suzuki passen, zumindest nicht, wenn auch noch vier Personen Platz nehmen sollen. Aber irgendwie schaffen die drei es doch. Knapp sechs Stunden und vier Staus später sind wir da, in der sächsischen Stadt, deren zweiter Name Utopia sein muss. Blasse, schwarz gewandete Gestalten suchen Schattenplätze und fächern sich warme Luft zu. Wir erreichen die Sternwartenstraße und sehen gleich die antike und liebevoll restaurierte Bestattungskutsche (Baujahr ca. 1820) inklusive Sarg vor dem Eingang – hier sind wir richtig. Als ich an der Kutsche vorbeigehe, kommt es mir vor, als hörte ich ein leises Stöhnen. Im Eingang treffe ich Frank Herrmann, den Eigentümer der Absintherie Sixtina. Wir begrüßen uns herzlich und er erklärt uns, wo wir unser Equipment ausladen können. Schlepperei, Teil 2. Tanja zeigt uns den Backstagebereich. Der Innenhof der Sixtina ist rappelvoll, wir treffen auf gute alte Bekannte und auf Leute, die uns von einem großen sozialen Netzwerk her bekannt sind. Aus einer virtuellen Community wird eine reelle! Lampenfieber gehört dazu, heißt es. Warum eigentlich? Mir ist schlecht und ich bekomme üble Laune. Mit aufgesetzten Kopfhörern gehe ich umher und konzentriere mich auf die Texte, die ich gleich performen werde. Als ich die Treppe hinuntergehe, bemerke ich einen Schatten, der um die Ecke biegt. Aber als ich selbst unten ankomme, ist da niemand. Ich ziehe mich um, frische Kajal und Lippenstift auf. Gleich geht es los. Der Tonmischer nimmt Schlagzeug und Vocals ab. Dann startet Micha den Backtrack. Unser erstes Stück: Blutmond. Ich liebe diesen Auftakt! Die Nervosität legt sich. Ich blicke in Gesichter, die ganze Textpassagen mitsprechen! Nach dem ersten Stück begrüße ich das Publikum und sage: „Nach Leipzig zu kommen, ist wie nach Hause zu kommen!“ Und das ist die tief empfundene Wahrheit. Nach dem rund einstündigen Gig mischen Micha und ich uns unter die Leute auf dem Hof. Achim Windel von Placebo Effect, der zu unserem Auftritt gekommen ist, steuert auf Micha zu: die beiden verbindet eine gemeinsame Bandvergangenheit und die Liebe zu Kraut-Rock. Er verspricht, im September ins Logo in Hamburg zu kommen, wenn wir mit der legendären Band Faust und zwei weiteren Bands auftreten. Frank bringt uns seinen köstlichen geeisten Absinth, der wie eine verführerische Süßigkeit schmeckt. Ihm und Tanja ist es nach dem Auszug aus der alten Sixtina gelungen, wieder einen atmosphärischen Standort für ihre Absintherie zu finden und mit Leben zu füllen. Warum gibt es so einen Laden eigentlich nicht in Hamburg? Später geht es ins Haus am Kulkwitzer See, wo wir ein Camping-Idyll vorfinden. Bürgerliches Pfingst-Bade-Vergnügen meets Grufties. Es ist wie es in Leipzig irgendwie immer ist: Die Bürger gucken freundlich-neugierig und kümmern sich dann wieder um ihre eigenen Angelegenheiten. Als ich viel später die Terrasse verlasse und die Treppe zum Schlafzimmer hinaufsteige, glaube ich ein Schlurfen hinter mir zu hören. Aber das muss wohl Einbildung sein. Pfingstsonnabend, der Vormittag vor dem Auftritt auf der Parkbühne. Wieder Sachen packen, fertig machen. Es ist erheblich heißer als am Vortag. Die vielen Baustellen machen es uns nicht gerade leicht, einen befahrbaren Weg zur Bühne zu finden. Wieder die Örtlichkeiten sichten, ausladen. Wir haben hier viele kompetente Helfer. Ich sehe, dass die Sonne noch hinter der Bühne steht und hoffe, dass es auch ihr zu heiß ist, um sich schnell zu bewegen … Schneewittchen sind gerade beim Soundcheck, sie werden uns bei den ersten beiden Stücken begleiten. Wir treffen letzte Absprachen, dann ziehen sich alle zurück. Unser Raum Backstage ist im Vergleich zur Außentemperatur wie ein Kühlschrank. Auf allen Gesichtern erscheint ein Lächeln. Mit der Nervosität geht jeder auf seine Art um: Micha macht Lockerungsübungen und hämmert mit seinen Sticks rhythmisch auf das Sofa ein. Rolf läuft herum und raucht eine Zigarette nach der anderen, Stefan nimmt geschätzte 150 mal seine Gitarre und seinen Bass zur Hand, prüft die Saiten und stellt sie wieder ab. Ich gehe im Gang auf und ab und mache Sprechübungen. Unsere beiden Filmer, Jens und Jochen, beschäftigen sich mit ihren Kameras. Das Leben wartet nicht auf dich. Der Uhrzeiger auch nicht. Schneewittchen kündigen ihren letzten Song an, dann noch eine Zugabe. Wir stehen schon hinter der Bühne bereit, kommen kurz zu viert zusammen und blicken uns fest in die Augen: Vollgas! Bühnenwechsel, kurzer Soundcheck. Als die ersten Takte vom ersten Stück erschallen, steht uns die Sonne exakt gegenüber – 41 Grad Celsius! Der Tonmischer braucht offensichtlich seine Zeit, um den Sound einzupegeln, aber das Publikum ist von Anfang an voll da! Die Leute stehen in der prallen Sonne und tanzen und sprechen mit und feiern die Düsternis bei gleißendem Sonnenschein! Schweiß rinnt mir in die Augen und brennt. Ich kann dabei zusehen, wie Rolf während des Auftritts braun wird! Micha drischt auf die Kessel ein, als wäre es keine Spur anstrengend. Stefan haut in die Saiten, als wäre es das letzte Mal. Ganz hinten im Publikum winkt mir eine Gestalt mit Kutte zu, das Gesicht hinter einer Kapuze verborgen. Etwas Silbriges in ihrer Hand blitzt im Sonnenlicht auf. Eine Sichel? Oder eine Sense? Als meine Augen sie später noch einmal suchen, ist sie fort. Wir werden alle immer erhitzter, aber auch immer gelöster – am Ende schreien wir zusammen mit dem Publikum: Das ist nicht meine Welt! Der Zeitplan beim WGT ist generell straff organisiert, Zugaben sind nicht drin. Nach unserem letzten Stück wird abgebaut. Ich fliehe in den Kühlschrankraum, wasche mein knallrotes Gesicht. Zum Glück kein Sonnenbrand… Danach Decke, Wiese, Schatten, Getränke! Begegnungen mit netten Leuten, die auf uns zukommen – ich liebe diesen Treffen-Charakter des WGT! Wir lauschen noch Ewigheim, den Untoten und Staubkind, dann geht es ins Hotel, frisch machen – und dann in die Agra: Placebo Effect, The Klinik und Front Line Assembly. Und immer wieder Begegnungen, Gespräche – alle scheinen in derselben Weise zu schwingen, genießen das Paralleluniversum, das wir alle gemeinsam für uns kreieren! Am nächsten Tag ergeben wir uns dem Kaufrausch, besuchen den NEGAtief-Stand – das Magazin gibt es wieder – und Bruno Kramm, unseren Label-Chef. Wir plaudern über OT, Das Ich, Tauchen und die Piratenpartei. Stefan Ackermann sagt: „Die Desiderat höre ich jeden Tag, und zwar ganz laut. Meine Nachbarn kennen alle Texte!“ :))) Später, auf dem Hof der Sixtina, sehen wir eine Modenschau, danach: Honey von Welle Erdball „keeps the 80’s alive“! Der Hof tobt! Während dessen bereitet sich Mark Benecke schon auf sein DJ-Set vor. Als ich später in die Krypta gehe, wo er auflegt, sehe ich den Kuttenmann mit verschränkten Armen hinter ihm stehen. Eigentlich wollen wir zu Anne Clark in den Kohlrabizirkus, entscheiden uns dann aber doch für The Soft Moon, die im Volkspalast spielen. Drei Turnschuh tragende Wuschelköpfe aus England, die sich ganz offensichtlich nicht im Gruftkaufhaus eingekleidet haben, spielen im Volkspalast wie Cure on Extasy… Wenig Text, aber hypnotisch! Hier sehe ich den Gevatter noch einmal; er wirkt müde und beachtet mich nicht und ich verstehe: Er will nichts von mir. Noch nicht. Er will nur, dass ich weiß, dass er da ist. Und irgend etwas stirbt ja auch tatsächlich jeden Tag. Manchmal ein Leben. Manchmal eine Illusion. Manchmal eine Freundschaft. Aber das ist jetzt ganz gleichgültig, hier, in Utopia-Leipzig, darf jeder so sein wie er will, darf jeder seine Auszeit nehmen und sich einmal ganz und gar unverkleidet und unverstellt zeigen. In unserem Universum sind wir Supernovas ganz entre nous. (erschienen in Pfingstgeflüster 2014) hier ordern: #Oberer Totpunkt #WGT #Danse Macabre #Pfingstgefluester
7 Kommentare
Gothica
21/5/2016 22:14:31
Toll! Danke für Deine einzigartigen Texte!
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Hermann Gropius
23/5/2016 17:50:38
Ich war dabei und hab euch 2x in der Sixtina und auf der Parkbühne gesehen. Es war so irre heiß, aber ein großes Konzerterlebnis. Schön etwas backstage-Infos zu bekommen.
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Leep
23/5/2016 19:40:03
OT auf dem WGT! So toll!
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Jana
26/5/2016 23:08:05
Leipzig & WGT & OT einfach klasse. Pfingstgeflüster ist bestellt:)
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DB
27/5/2016 22:28:45
Wäre gern bei diesem Konzert dabei gewesen:()
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Manon
27/5/2016 23:00:57
Gevatter Tod!!
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666
27/5/2016 23:28:57
toll erlebnis1
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AuthorBettina Bormann
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